„Gemeinsam werden wir ME/CFS heilen!“

Kaum Energie. Immobil. Ohne Selbstbestimmung. ME/CFS nimmt Menschen alles, was ihr Leben davor ausgemacht hat, und hinterlässt sie in einer Dunkelheit der Erschöpfung, der Hilflosigkeit, der Ungewissheit. Als eine von 18 Charity-Organisationen nutzte die We&Me Foundation die Bühne der Lauffestspiele der Mozartstadt, um beim #OneMileForASmile – Inclusion Run by Coca-Cola ein klares Zeichen zu setzen. Es soll schwer Betroffenen, wie Sandra, kleine Hoffnungsschimmer bieten.

„Gemeinsam werden wir ME/CFS heilen!“ Die Botschaft der We&Me Foundation beim #OneMileForASmile – Inclusion Run am 17. Mai, fünf Tage nach dem „ME/CFS-Awereness-Day“, war unmissverständlich. Rund 300 Teilnehmer*innen liefen, gingen oder rollten für diese Initiative eine symbolische Meile durch den Volksgarten. Für Sichtbarkeit des Leidens. Für Sensibilisierung in der Gesellschaft. Für Hoffnungszeichen an jene, denen ME/CFS die Lebensfreude genommen hat.

Denn ME/CFS ist mitten unter uns. Rund 5.000 Betroffene gibt es allein im Bundesland Salzburg, viele Hunderte können ihr Bett nicht oder kaum mehr verlassen. Ihr Leben und jenes ihrer Familien ist massiv eingeschränkt. 300mal strahlte bei diesem hochemotionalen Zusammen-Aktivsein im Volksgarten eine berührende Botschaft aus: ME/CFS-Patient*innen, mit denen es das Schicksal besonders hart meint, dürfen nicht alleingelassen werden!

© Lauffestspiele / Doris Marka

Ein Leben im abgedunkelten Zimmer

Es sind Schicksale wie jenes von Sandra. Mehr als 23 Stunden verbringt sie liegend im Bett. Jeden Tag. In einem abgedunkelten, stillen Zimmer, nur das absolute Minimum an Reizen. In die restliche Stunde legt Sandra ihre gesamte verfügbare Energie, jedoch verbunden mit dem Ziel, unterhalb ihrer gegenwärtigen Belastungsgrenzen zu bleiben. Eine Mahlzeit, sie verträgt ausschließlich histaminfreie Nahrung, die sie allein einnehmen muss, da es zu viel Reize sind, mit den Eltern gemeinsam zu essen, und einige Toilettengänge – mehr geht nicht. Ein Plus an Reizen, ein Mehr an körperlicher, mentaler oder emotionaler Anstrengung würden eine zeitverzögerte Verschlechterung des Zustandes bewirken. Mit Garantie! Dennoch besagt das Gutachten, sie sei uneingeschränkt arbeitsfähig.

Jeder Schritt an die frische Luft, jedes Gespräch mit einer Freundin, jedes Kapitel eines Buches würden 24 bis 72 Stunden später den ohnehin schon deprimierenden Zustand verschlimmern. „Nur wenn man die Belastungsgrenze über einen langen Zeitraum immer einhält, ist überhaupt eine sehr langsame Besserung möglich – wir reden hier von klitzekleinen Schritten“, erklärt Sandras Vater. Selbstredend stammen alle in diesem Artikel verwendeten Schilderungen folgerichtig von Sandras Eltern oder wurden über ihre Eltern und eine vertraute Freundin an den Autor übermittelt.

Tückische Erkrankung

Für eine derartige Verschlechterung des Zustandes wie bei Sandra ist die so genannte „Post-Exertional Malaise (PEM)“ verantwortlich. Sie macht diese Erkrankung ME/CFS einerseits so ungewöhnlich und andererseits so tückisch. Denn Aktivierung in der Therapie ist, wie man heute weiß, der völlig falsche Weg – ein Fakt, der in der Anfangszeit der rapiden Steigerung der ME/CFS-Fälle als Nachwirkung der COVID-19-Pandemie wohl ziemlich unterschätzt wurde. Davon kann die Familie leider einige Episoden erzählen. Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass eine Reihe von Fehleinschätzungen in Gesundheitseinrichtungen den Krankheitsverlauf von ME/CFS bei Sandra negativ beeinflusst hat.

Sandra ist 27 Jahre jung. Sie stammt aus Oberösterreich, ist zum Studium nach Salzburg gezogen, arbeitete als begeisterte Lehrerin und hatte ein Herz für Kinder und Jugendliche – auch außerhalb ihres Berufs. Sie engagierte sich im Roten Kreuz und im Jugendrotkreuz, spielte zwei Instrumente und ging leidenschaftlich etlichen Sport- und Freizeitaktivitäten nach. Sie sprühte vor Lebensenergie! Diese Sätze sind auch eine Schilderung von Sandra. Nur: Das ist in der Vergangenheit verankert und wirkt wie aus einem anderen Leben.

© Lauffestspiele / Doris Marka

Die Suche nach einer Perspektive

Bei ME/CFS handelt es sich um eine sehr komplexe, neuroimmunologische Multisystemerkrankung, ein Phänomen, das medizinisch noch nicht endgültig erklärt werden kann. Vielleicht kann es jede und jeden nach einer Infektionskrankheit betreffen, Frauen statistisch wesentlich öfter als Männer, auffallend oft junge, davor sehr aktiv lebende Menschen. Die Salzburger Landtagsabgeordnete Kimbie Humer-Vogl unterstützt die We&Me Foundation, eine Initiative der Familie Ströck, die für betroffene Patient*innen die Stimme erhebt und Spendengelder für Forschungsprojekte sammelt. Ihr geht es darum, persönliche Schicksale zu lindern und verzweifelten Menschen eine Perspektive zu bieten. Daher warb sie für eine Teilnahme am #OneMileForASmile – Inclusion Run by Coca-Cola und leitete die große Gruppe der We&Me Foundation durch den Event, der die volle Offenheit und Vielfalt der Gesellschaft präsentiert und viele verschiedene Botschaften und Projekte der Charity-Partner der Lauffestspiele in einem emotionalen Miteinander vereint.

Halbkrank in die Arbeit

Die dramatische Wendung im Leben von Sandra nahm ihren Anfang mit einer COVID-19-Infektion im Jänner 2023. Diverse Krankheitssymptome blieben langfristig, etwa Hals- und Ohrenschmerzen, leichtes Fieber, Muskel- und Nervenschmerzen – und chronisch hohe Herzfrequenz bei minimalen Belastungen. Binnen 16 Monaten suchte sie etwa 30mal Ärzt*innen auf, schilderte ihren Zustand und ihr Empfinden immer auf umfangreiche Art und Weise. Ihre Eindrücke aus persönlichen Erfahrungen: Sie fand weder das Gehör, das sie gebraucht hätte, noch die Gabe von ärztlicher Seite, die in diesem Fall richtigen Schlüsse aus den Schilderungen zu ziehen.

Krankenstände fielen zu kurz aus. Trotz ausbleibender Besserung musste sich Sandra monatelang immer wieder in die Arbeit schleppen, obwohl ihr Zustand das eigentlich nicht zuließ. Kaum vom Unterricht zurück daheim, fiel sie in einen stundenlangen Schlaf der Erschöpfung. Weder bei der Arbeit noch in den Arztpraxen erhielten sie und ihre Schilderungen eine seriöse Auffassung, die es wohl gebraucht hätte. Stattdessen begegnete sie mitunter Ignoranz. Ihr Fazit aus dem Erlebten liest sich ernüchternd: Präpotenz anstatt Kompetenz, sektorale Wissenslücken anstatt Expertise, Arzthopping anstatt Lösungsansätze. Zusätzlich zu dieser Unterversorgung führte zu allem Überfluss ein sportmedizinisches Leistungskardiotraining zu einer signifikanten Verschlechterung von Dauer.

© Lauffestspiele / Doris Marka
© Lauffestspiele / Doris Marka

Keine Struktur im System

Fast eineinhalb Jahre nach dem Start der Symptomatik erhielt Sandra die Diagnose. Doch selbst nach der Diagnose ME/CFS begann in der medizinischen Behandlung ein Hürdenlauf. Beim Erhalt von Medikamenten, bei der Aufrechterhaltung von Krankenständen, beim Einreichen von Formularen und Ansuchen. Es begann ein organisatorischer Marathonlauf, für den Sandra keine Kraft mehr hatte.

Es fehlt die Struktur im System, es fehlt ein zentrales Anlaufzentrum, welches Bedürfnisse in die richtigen Kanäle verbreiten könnte. Und es fehlt laut Meinung vieler, die in aktuellen Medienberichten zu Wort kommen, an Kompetenz. Erstaunlich ist das deshalb, da diese Krankheit seit fast 60 Jahren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannt ist. Es fehlt eine erkennbare Dynamik in der Forschung, es fehlt irgendwie der Antrieb. Österreichweit, vielleicht weltweit. Hier ist die We&Me Foundation bemüht, anzusetzen. Eine notwendige Blinddarmoperation im Winter überforderte Sandras Körper so sehr, dass der darauffolgende Rückfall ihrem Leben endgültig alles nahm, was es ausmachte. Inklusive der Fähigkeit, morgens mit Farbe im Gesicht aufzuwachen und sich eigenständig aufzurichten.

Die 27-Jährige ist eine von geschätzt 15.000 schweren Fällen an ME/CFS erkrankter Menschen in Österreich. Schwere bis besonders schwere Fälle meinen Bettlägerigkeit, Immobilität, umfassenden bis durchgehenden Pflegebedarf. Insgesamt schätzt die MedUni Wien bis zu 80.000 an ME/CFS erkrankte Menschen in Österreich. Knapp jeder fünfte Fall ist also mit einer vergleichbaren Drastik verbunden wie jener von Sandra. Es gibt Muster, aber keine 100% erörterbare Symptomatik und – was besonders tückisch ist – individuelle Ausprägungen, erklären ihre Eltern. Sprich: Fast jeder Erkrankungsfall ist anders, erfordert eigene Bewertungen und oft auch individuelle Therapieansätze.

24 Stunden vor Ort

Seit Monaten wechseln sich ihr Vater und ihre Mutter, beide berufstätig, mit der Betreuung ihrer Tochter ab. 24/7. Verbunden mit häufigen Autofahrten von Oberösterreich nach Salzburg. Mutter und Vater sehen sich unter der Woche nur wenige Minuten – beim „Schichtwechsel“. Schlagartig hat sich das Leben der Familie komplett verändert. Alle Pläne, alle Ideen, alle Wünsche, die sich die Eltern für die nahe Pension vorgestellt haben, sind grundsätzlich ad acta gelegt. Ihr Leben dreht sich um ihre Tochter.

Sandra leidet, ihre Eltern kämpfen. Der Alltag ist für die drei an Herausforderungen nicht zu überbieten. Alle haben keine Kraft und keine Energie mehr, machen aber weiter. Sein eigenes Kind so leiden zu sehen, sei die ultimative Stufe der emotionalen Belastungsskala, gibt die Mutter zu. Sandra ist in Behandlung bei Dr. Stingl und Dr. Geiger in Wien sowie bei DDr. Weber in Graz. Alle bieten telemedizinische Betreuung an, weil Präsenztermine unmöglich wären. Die Behandlung erfolgt mit Off-Label-Medikamenten. Es gibt Augenblicke, wo ihr Einsatz ganz leise Hoffnungsschimmer bringt. Es sind Mini-Schritte auf niedrigstem Niveau, ein paar etwas weniger schlimme Stunden. Aber sie sind kein Heilmittel. Weit, weit davon entfernt.

Ernüchterndes Urteil

Zur Ineffektivität in der medizinischen Versorgung kommen belastende Hürden in der sozialen Versorgung der Patient*innen. Die APA, der ORF und Dossier haben in einer gemeinsamen Recherche den Missstand ins Licht der Öffentlichkeit gebracht, dass ME/CFS-Schwer- und Schwerstbetroffene oft keine oder kaum Sozialleistungen erhalten. Anwälte klagen systematisches Fehlvorgehen an. Sandras Familie kann ein Lied davon singen und tut es. Von ineffektiver Bürokratie, mühevollen Wegen, langsamen Schritten, von unbegründeter Ablehnung. Die Einordnung in Pflegestufe 1, obwohl das qualifizierte Gutachten Stufe 3 ergeben hat, ist ernüchternd, eine 24-Stunden-Betreuung ist mit diesem Status für die Familie nicht finanzierbar. Pflegefreistellung und Pflegeteilzeit für die erwerbstätigen Eltern ist somit nicht möglich.

„Wir müssen klagen, um Unrecht zu verhindern und nicht, um Recht zu bekommen“, schildert der Vater. Einhergehend mit aufwändigen Recherchen, Anträgen, Anwaltsgesprächen: ein permanenter Aufwand, der am Ende eine Sackgasse in Ernüchterung findet. Es ist ein Abnutzungskampf, der der Familie den Boden unter den Füßen wegzieht. „Am Ende stell ich mir die Frage: Was haben wir für unsere Tochter erreicht?“

© Lauffestspiele / Doris Marka

#millionsmissing

Natürlich denkt Sandra oft darüber nach, warum das Schicksal es so grauenvoll mit ihr meint. Diese Frage stellen sich weltweit viele. Auf Instagram gibt es unter dem Hashtag #millionsmissing ein verbindendes Element, vorangetrieben durch Angehörige. Die Zuversicht hat die junge Frau noch nicht verloren. Auch ihre Eltern beteuern, die Hoffnung nicht zu verlieren. Sie wissen, dass ihnen die Zeit davonläuft, die lange Zeit bis zur Diagnose wirkt besonders negativ. Das C in der Krankheitsbezeichnung steht für „chronisch“: Die Chronifizierung des Zustandes bedeutet Verschlechterung. Je weiter fortgeschritten, desto geringer sind aus heutiger Sicht Besserungschancen – wenn nicht eine innovative Entwicklung in der Forschung rasch zu Hilfe schreitet.

Sandras Motivation darin, trotz aller Leiden ihre Geschichte zu erzählen, liegt in der Chance, das System wachzurütteln und damit zukünftigen Schicksalen dieser Art rechtzeitig eine bessere Wendung geben zu können. Diese Ambition verfolgt auch die We&Me Foundation, die mit Spendengeldern wie jenen, die im Rahmen des #OneMileForASmile – Inclusion Run by Coca-Cola gesammelt wurden, die Forschung vorantreiben möchte. „Mit unserer Teilnahme haben wir gezeigt, dass uns Menschen, die an ME/CFS erkrankt sind, wichtig sind und dass wir uns sehr freuen werden, wenn sie wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können“, betont Kimbie Humer-Vogl. An die 30.000 Euro konnten alleine im Rahmen des #OneMileForASmile – Inclusion Run zugunsten der Forschung generiert werden, so Humer-Vogl, die bekräftigt: „Wir glauben daran, dass wir gemeinsam ME/CFS heilen können!“

© Lauffestspiele / Doris Marka

Im Miteinander und in Verbundenheit haben die Teilnehmer*innen am #OneMileForASmile – Inclusion Run by Coca-Cola mit ihrem Auftreten, ihren individuellen Botschaften und selbst gebastelten Schildern sowie begleitet vom Prinzip der Hoffnung den Blick nach vorne gerichtet. Für alle, die mit ME/CFS kämpfen müssen.